Am Vintlerhof in Brixen-Milland wird eine biologische Landwirtschaft betrieben, die zudem Menschen in schwierigen Lebenssituationen Erdung gibt. Wir veröffentlichen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Dolomiten-Tagblatts.
Haben deren Tage mehr Stunden oder wie schaffen sie das alles? Miriam Zenorini ist eine dieser Menschen, bei der sich das mancher fragt. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie sich am Vintlerhof in Milland, den sie als Biosozialhof betreibt, ihren Lebenstraum erfüllt.
Mit dem Schubkarren in der Hand kommt Miriam Zenorini vom Eselsgehege zum Interview. Dieses findet auf der Terrasse vor dem Vintlerhof in Milland statt, dem ursprünglichen Christelehaus, das von 2003 bis 2016 Heimstätte des Hauses der Solidarität (HdS) war und – wie der Ansitz Platsch daneben – den Comboni-Missionaren der deutschsprachigen Provinz gehört.
Zenorini (37) ist Trägerin des Oscar-Green- und Agitu-Förderpreises für Pionierinnen der Landwirtschaft. Der Landwirtschaftsverband Coldiretti hat sie jüngst für ihre Arbeitseingliederungsprojekte für Frauen in Gewaltsituationen ausgezeichnet. Auf den Vintlerhof kam die in Leifers Aufgewachsene mit ihrem Mann Mirco Postinghel Ende 2017. „Unabhängig von unserem Kennenlernen hatten wir beide den Traum, die Landwirtschaft mit Arbeit am und mit Menschen zu verbinden“, sagt Zenorini. Beide hatten in ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit die Erfahrung gemacht, dass die Natur für Menschen in schwierigen Lebenslagen heilend sein kann.
In Indien Frauen zu eigenem Einkommen verholfen
Nach ihrem Sozialarbeit-Studium arbeitete Zenorini für ein internationales Hilfsprojekt in Indien: „Dort habe ich schnell gemerkt, dass das Projekt wenig mit den Bedürfnissen der Leute vor Ort zu tun hat. Also bin ich zurück nach Südtirol und habe Spenden gesammelt“. Damit gründete sie in Indien, wo sie von 2007 bis 2009 lebte, eine Milchgenossenschaft. Eingestellt wurden nur Frauen, die zugleich schreiben und lesen lernen sollten. Mit Hilfe von Mikrokredit-Systemen gelang es einigen, sich eine eigene Verdienstmöglichkeit zu schaffen. So kaufte eine Frau Schafe, deren Wolle sie verarbeitete. Mit dem Verkauf der Produkte ernährte sie dann ihre Familie.
Wieder in Südtirol arbeitete Zenorini im Sozialsprengel Leifers als Sozialassistentin. „Dabei hatte ich das Gefühl, es fehlt etwas“, blickt Zenorini zurück. Sie schrieb sich für das Studium der Sozialpädagogik ein, das sie parallel zur neuen Arbeit im HdS (2010 bis 2018) absolvierte.
Biologisch-nachhaltige und soziale Landwirtschaft
Als die Comboni-Missionare 2016 über eine Ausschreibung Pächter suchten, die den Vintlerhof nach biologischen und sozialen Kriterien bearbeiten wollten, sah sie mit ihrem Mann die Chance gekommen.
„Wir haben lange nach einem Hof gesucht, der mit Öffis erreichbar und gut gelegen ist“, berichtet Zenorini. Als sie von den 53 Mitbewerbern erfuhr, sah sie ihren Traum bereits ausgeträumt. Sie und ihr Mann wollten gemeinsam mit einer zweiten Familie am Vintlerhof eine multisektorielle Landwirtschaft mit Wein-, Obst- Getreide- und Gemüseanbau sowie Viehhaltung betreiben – in Kombination mit tiergestützten Interventionen, Schule am Bauernhof, Waldkindergarten und Arbeitsintegrationsprojekten. „Über Gästezimmer wollten wir uns finanzieren“. sagt Zenorini. Nach einem persönlichen Gespräch mit dem gesamten Provinzrat war aber klar: der Vintlerhof mit seinen sieben Hektar Wiesen wird Zenorinis neues Zuhause.
„Ende 2017 – wir hatten unsere Wohnung schon gekündigt – sind wir in eine Baustelle eingezogen“, berichtet Zenorini, dass die Renovierungsarbeiten am denkmalgeschützten Hof noch nicht abgeschlossen waren. Ab diesem Zeitpunkt wurde die anvisierte Vision schrittweise umgesetzt.
Gastronomie soll soziale Tätigkeit finanzieren
„Mit dem Gemüseacker sind wir sofort gestartet“, erzählt Zenorini. Auch die alten Obstbäume wurden abgeerntet und die Früchte verkauft. Die ersten Gäste kamen, im Buschenschank wurde für Hochzeits- und Taufgesellschaften aufgekocht. Am Jahresende 2018 kam der erste Rückschlag. „Die zweite Familie stieg aus, weil es ihr zu viel wurde“, erzählt Zenorini. Alleine weitermachen, neue Verbündete mit den gleichen Idealen suchen? „Unser Hofkonzept war für zwei Familien ausgelegt. Alle sollten auch noch außerhalb berufstätig sein können und Zeit für einen Urlaub haben“, erzählt Zenorini.
Für Urlaub blieb der jungen Familie mit dreijähriger Tochter nach ihrer Entscheidung, alleine weiterzumachen, keine Zeit mehr. „Zwei Wochen am Stück Urlaub mit der Familie irgendwo auf einer Alm, wo wir niemanden sehen: Das wäre ein Traum“, meint Zenorini.
Esel werden als Therapietiere eingesetzt
2019 kam der Kräuteracker dazu. Zenorini erwarb ihren Master in sozialer Landwirtschaft. Im Hofladen wurden die eigenen, biozertifizierten Produkte verkauft. 2020 begann Zenorini mit ihren zwei Therapie-Eseln Brasa und Jana zu arbeiten, die bereits von Anfang an mit Hennen und Laufenten mit auf den Hof zogen.
Die „Tiergestützten Interventionen“ können Freizeitaktivitäten, wie Spaziergänge mit dem Esel, ebenso wie individuell zugeschnittene Projekte mit einem pädagogischen Ziel sein. Kinder mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADHS finden in der Beschäftigung mit dem Esel zu mehr Ruhe. „Ein Kind mit Lese- und Rechtschreibschwäche liest dem Esel vor und gewinnt dadurch mehr Selbstvertrauen“, erzählt Zenorini. Eine Jugendliche mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen lernt im Umgang mit dem Esel ihre Eigenbedürfnisse wahrzunehmen, etwa zu trinken, wenn sie Durst hat.
Großen Bedarf sieht Zenorini an Arbeitseingliederungsprojekten. „Mit dreien sind wir gestartet, heuer haben wir mit sechzehn unsere Kapazitätsgrenze erreicht“, sagt Zenorini, die dafür keine Subventionen bezieht.
Arbeit gibt Halt
Auf Vermittlung des Frauenhausdienstes, der Sozialdienste, des Zentrums für psychische Gesundheit, des Dienstes für Abhängigkeitserkrankungen kommen Frauen und Männer in schwierigen Lebenslagen, mit Sucht- oder psychischen Problemen vormittags auf den Hof. Dort arbeiten sie auf dem Acker, verarbeiten das Geerntete, helfen beim Reinigen der Gästezimmer. Zenorini spricht von „meinen Buibm und Gitschn“. Von den aktuell sechzehn sind neun Frauen, die in ihrem Leben Gewalt in verschiedensten Formen erfahren haben. „Eine hat erst begonnen zu reagieren, als man ihr das Kind wegnehmen wollte“, weiß Zenorini.
Um nicht eine Friedhofsstimmung oder einen Austausch über die Drogenszene zu generieren, versucht Zenorini, Personen mit unterschiedlichen Problematiken aufzunehmen. Auf Landesebene arbeitet die rührige Frau an den Durchführungsbestimmungen für die soziale Landwirtschaft mit. Im November beendet sie ihre Ausbildung in Tiergestützter Pädagogik.
Kinder spielen den ganzen Tag im Freien
Mit dem Verein Faunus werden am Vintlerhof auch eine Spielgruppe und ein Waldkindergarten angeboten. „Er durchläuft heuer den Weg der öffentlichen Anerkennung“, verweist Zenorini, dass damit das Angebot, finanziell gesehen, breiter zugänglich werde. „In schwierigen Situationen hat das freie Spiel in der Natur fast eine therapeutische Wirkung – wenn auch sonst Regeln gelten, wie in jedem Kindergarten auch“, betont Zenorini. Sie hat bereits ein nächstes Projekt im Kopf: Senioren als sogenannte Leihgroßeltern mit Kindern zusammenzubringen.
Pferd soll Traktor ersetzen
„So ökologisch wie möglich zu arbeiten“ lautet das Ziel für 2024. Der Traktor, mit dem nur die Wiesen gemäht werden, soll durch ein Arbeits- und Therapiepferd ersetzt werden, erzählt Zenori. Auch beim Fleischkonsum wird auf Nachhaltigkeit gesetzt. „Wir planen ein, zwei Rinder für den Eigengebrauch anzuschaffen“. Bis zu vier Schweine werden zeitweise bis zur Schlachtung bereits gehalten. Bis zur nächsten muss dann der in der Kühltruhe angelegte Fleischvorrat reichen. Im Winter, wenn die Äcker und Wiesen ruhen, arbeiten die Hofpächter auswärts. „Mein Mann – ein gelernter Informatiker – arbeitet im Forum Brixen als Techniker. Ich werde heuer als Dozentin für soziale Landwirtschaft an der Uni Brixen unterrichten“, erzählt Zenorini, die zudem Vizepräsidentin im Pfarrgemeinderat Milland, Vorstandmitglied im Spieleverein dinx und – seit Juli – Verwaltungsrätin bei Coldiretti Bozen ist. Wie ist das alles unter einen Hut zu bringen? „Das weiß ich oft auch nicht“, meint Zenorini, „ich brauche sehr wenig Schlaf, und wir haben keinen Fernseher. Man kann die Zeit anders nutzen, als sich nur berieseln zu lassen“.
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