Er hat uns (zuerst) geliebt: Papst Franziskus gibt in seinem Schreiben zur Herz-Jesu-Verehrung Einblicke in sein eigenes Herz

Er hat uns (zuerst) geliebt: Papst Franziskus gibt in seinem Schreiben zur Herz-Jesu-Verehrung Einblicke in sein eigenes Herz

Anlässlich der 350jährigen Wiederkehr der Visionen der französischen Ordensfrau Margareta-Maria Alacoque in Paray-le-Monial hat Papst Franziskus ein sehr persönliches Schreiben, ja eine Art persönlichen Brief an die Kirche und alle Menschen guten Willens geschrieben. Dieser Brief hat die Form einer Enzyklika, eines universales Lehrschreibens also, und wurde am 24.10.2024 mit dem Titel veröffentlicht: „Dilexit nos / Er hat uns geliebt“. Das bedeutet für mich, dass Franziskus in die kirchliche Lehre das eigene Herz integriert sehen möchte, damit wir und alle Menschen ermutigt werden, mit dem Herzen zu denken und in Übereinstimmung mit unserer innersten in Gott gegründeten Mitte in Berührung zu bleiben. Botschaft und die Person als Zeugin der Wahrheit können nicht getrennt werden. Der Papst ist dabei von der Sorge berührt, ja aufgewühlt, dass die Menschheit in den aktuellen Entwicklungen ihre innerste Herzensmitte verlieren könnte. Deshalb ermutigt er alle Menschen, wie es der Kleine Prinz sagen würde, mit dem Herzen zu sehen, mit dem Herzen zu denken. Gerne sprechen wir heute von „emotionaler Intelligenz“, – doch wer wagt es, auf sie wirklich zu hören?

Dieses Schreiben prägt eine tief biblische Mystik, die gerade am Beginn der Moderne neu erwacht war, und dann von vielen Frauen und Männern aus so vielen gesellschaftlichen Gruppen und Geschlechtern moduliert und vertieft wurde. Diese Frömmigkeitstradition, in der die konkrete „Herz-Jesu-Verehrung“ eine mögliche, wenn auch überaus hilfreiche Ausprägung darstellt, kann auch uns heute ansprechen und heilend verändern. Wir sollten das Schreiben nicht in das 19. Jahrhundert abschieben, wenn wir die tiefe Kluft in unserer Gesellschaft zu überbrücken versuchen. Dass wir von Wissenschaft allein nicht leben können, hat spätestens die „Corona-Krise“ gezeigt.

Wie kann man diesem Wunsch des Papstes entsprechen, da ja die allgemeine Meinung im deutschen Sprachraum eher dazu neigte, diese Tradition zu verabschieden. In seinem Schreiben zitiert Franziskus das Kardinalsmotto von J.H. Newman: „cor ad cor loquitur“ (Nr. 26). Mit dem eigenen Herzen antworten! Damit ist auf die Mitte aller menschlichen Existenz verwiesen: auf gelingende Beziehung, in der Achtung, Anerkennung auf Aufmerksamkeit allein gelebt werden kann. Also wage ich es hier persönlich zu antworten, soweit es in der Öffentlichkeit sinnvoll sein kann. Denn Newman sagte auch: „secretum mei mihi est / mein Geheiminis gehört mir“. Denn die Herz-Jesu-Frömmigkeit stellt eine Erfahrung in die Mitte: ich werde angesehen und ein Herz schlägt für mich, immer, ohne Bedingung, und befähigt und ermutigt mich so, mein Herz zu schenken.

Sich berühren lassen

Die Herz-Jesu-Verehrung ist mir nicht in die erste katholische Sozialisation geschrieben worden, auch wenn ich im spätbarocken Oberschwaben durch Gerüche, Inszenierungen und Bilderwelten, vor allem marianische, geprägt wurde. Im „Josephinum“ in Ellwangen, in dem ich meine Gymnasialzeit verbringen durfte, war von dieser Frömmigkeit in den 70er nichts mehr wirklich lebendig zu erfahren. Sie gehörte nach dem Konzil wohl zu jenen überkommenen Formen, die es galt, möglichst rasch und auf Dauer auszuräumen. Ich habe die Herz-Jesu-Tradition erst studiert und dann eingeübt in Tirol; im Raum der ignatianisch-jesuitischen Exerzitientradition. Mit Rahner, der in der Enzyklika zitiert wird (Nr. 15, Anm. 10), habe ich diese Tradition vertieft. „Herz“ sei ein symbolisches Urwort menschlicher Existenz, in dem ich selbst mit allen meinen Herkünften, Hoffnungen und Ängste da sein darf. In der Übung der Schlussbetrachtung der „Geistlichen Übungen“, der „Contemplatio de Amore / Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ hat sie mein Leben zu prägen begonnen, auch wenn mir manche Bilder fremd geblieben ist.

Doch das Herz-Jesu-Bild in Innsbruck, eine Kopie des Bildes von Pompeo Botoni in „Il Gesú“ aus dem Jahre 1760, spricht und schaut mich an und ich frage zurück: Woher kommt Dein Mut und Deine Kraft trotz aller Verletzung und Folter allen Menschen und so auch mir, Dein Herz anzubieten und zu einer besonderen Weggemeinschaft, ja Freundschaft einzuladen? Warum legst Du keinen Panzer an, ziehst Dich zurück oder drohst mit Rache? Von der Dornenkrone verletzbare Liebe, die immer wieder neu entflammt und mit allen das Wagnis der Beziehung neu eingeht! Zeigt dieses verletzte und gleichzeitig zutiefst lebendige Herz mir einen Weg und eine Haltung, den verwickelten und so gefährlichen Knoten leben zu können, der einer menschlichen Grunderfahrung entspringt: Mit der Öffnung und Nähe zum Anderen, auf die wir ganz angewiesen sind, steigt mit scheinbarer Notwendigkeit die Gefahr der Verletzbarkeit. Nähe und Verletzbarkeit steigen in dieser prekären Geschichte in gleichem Maße: je näher – desto gefährdeter. Weil niemand so tief und genau mich verletzen kann, wie jene Person, der ich mein Herz geöffnet habe, scheint es Liebe, Anerkennung und Nähe nur um den Preis der Passion, des möglichen Missbrauchs und der Gefährdung zu geben.

Liebe mit Liebe beantworten

Mit diesen Voraussetzungen und Fragen habe ich die Enzyklika gelesen, die in fünf Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven dazu einlädt, sich auf solche Herzensöffnung und Heilung einzulassen. Sie hat meiner Ansicht nach nicht die konzentrierte Dichte der letzten Enzyklika zu diesem Thema, von Papst Pius XII., „Haurietis Aquas“ (1956). Das ist auch nicht nötig, weil Franziskus keine Lehrentwicklung festschreiben will. „Dilexit nos“ hat keine neuen Quellen erschlossen oder gar aktuellen Frömmigkeitsbewegungen Orientierung gegeben, nein. Er will mit diesem Schreiben, wie schon gesagt, mit allen teilen, was ihn selbst berührt und im innersten deshalb auch motiviert, um auf seine sehr persönliche Weise, neu dazu zu ermutigen, sich auf diese Frömmigkeitstradition, die Innerlichkeit und politisches Engagement verbindet, einzulassen. Ja: Wir berühren in diesem Schreiben die Innenseite seines Pontifikats, das vor allem durch soziale Fragen und Kirchenerneuerung geprägt war. Er zeigt uns die Quellen, aus denen sein Lieblingsbegriff „Gaudium/Freude“ sich nährt (Nr. 217). Und ich erkenne in diesem Schreiben, das wohl seine letzte Enzyklika sein wird, eine Tiefenverbindung zur ersten Enzyklika von Papst Benedikt XVI.: Deus caritas est“ (2006).

Das Schreiben beginnt mit einer biblischen Grundlegung bei Paulus (Röm 8) und Johannes, also mit den ältesten und den jüngsten Schriften des Neuen Testaments. Die bei beiden Aposteln bezeugte Christusmystik ist die Mitte der Schrift und des Glaubens. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (Gal 2,20). Das erste Kapitel bietet eine anthropologische-philosophische Grundlegung, in dem mit zahlreichen Dichtern und Philosophen eine Zeitdiagnose vorgelegt wird, die die Bedeutung entfaltet, mit dem Herzen zu sprechen: „In dieser flüssigen Welt ist es notwendig, wieder vom Herzen zu sprechen, als dem Ort, wo in jedem Menschen, gleich welcher Herkunft und Lebensbedingung, alles zusammenkommt, wo all die anderen Kräfte, Überzeugungen, Leidenschaften und Entscheidungen der konkreten Menschen entspringen und verwurzelt sind. Aber wir bewegen uns in Gesellschaft von Serienkonsumenten, die in den Tag hineinleben und von den Rhythmen und dem Lärm der Technologie beherrscht werden, ohne viel Geduld für die Prozesse, die die Innerlichkeit erfordert. In der heutigen Gesellschaft läuft der Mensch »Gefahr, den Mittelpunkt, seine eigene Mitte zu verlieren«. »Der Mensch von heute ist oft zerstreut, gespalten, fast ohne ein inneres Prinzip, das in seinem Denken und Handeln Einheit und Harmonie schafft. Vielverbreitete Verhaltensmodelle verschärfen die technologisch-rationelle oder, umgekehrt, triebmäßige Dimension«. Es fehlt das Herz“ (9). Und doch ist es so notwendig, unsere innerste Mitte, die das Herz symbolisiert, nicht zu vernachlässigen. Durch das Herz werden die Bruchstücke verbunden, eine persönliche Geschichte möglich, ja es verweist darauf, dass ‚das Innerste der Wirklichkeit Liebe ist‘ (Nr. 16); und zwar deshalb weil Christus selbst das Herz der Welt ist (Nr 31). Deshalb kann sich allein vom Herzen her die Welt verändern, denn: „Das Herz ernst zu nehmen, hat soziale Konsequenzen“ (29).

Das zweite, biblisch-christologische Kapitel geht dem Herzen des Erlösers nach und lädt zu einer Betrachtung des Handelns Jesu sein, seinen Gesten, seinen Worten, seinem Blick (32- 47). Deshalb ist alle Herz-Jesu-Verehrung die Vereinigung mit der Person Christ selbst, mit dem, was ihn selbst zutiefst geprägt und bewegt hat: Gottes Wesen, das Liebe ist, trinitarische Liebe (64-77).!

Kapitel 3 stellt die theologische Grundlegung der Verehrung des Herzens Jesu dar. Nach einer Einleitung über die Verehrung des Bildes, das nicht beliebig ist, aber auch nur stellvertretend für die Person steht (52-58), wird mit den Kirchenvätern (62-63) und den jüngsten lehramtlichen Äußerungen (78-81) die trinitarische Dimension dieser Frömmigkeit herausgestellt, die sich auch in der Verehrung der Eucharistie, gegen jansenistische Strömungen richtete, die auf das Menschliche, Körperlich und Affektive herabschauten (86). Deren Ausläufer noch heute zu spüren sind, da sie „die Zartheit des Glaubens, die Freude hingebungsvollen Dienstes, den Eifer für die Mission von Mensch zu Mensch, das Überwältigtsein von der Schönheit Christi, die emotionale Dankbarkeit für die Freundschaft, die er anbietet, und den letzten Sinn, den er dem persönlichen Leben gibt, vergessen hat“ (88).

Kapitel vier eröffnet einen Gang durch die theologische Vertiefung dieser Tradition, die wiederum mit einer biblischen Grundlegung beginn (93-101) und deren Auslegung nachgeht. Hervorgehoben wird, nachdem ausdrücklich auf die Frauenmystik des Mittelalters (110), Ludolf von Sachsen (111) und Johannes Eudes (113) verwiesen wird, Franz von Sales (114-118), natürlich Margareta Maria Alacoque (119-124) und Claude de la Colombière (125), Charles de Foucauld (129-132) und Theresia vom Kinde Jesu (133-142), und natürlich der Widerhall in der Gesellschaft Jesu (143-147). Aus dieser langen Tradition des inneren Lebens erwacht Tröstung (151), eine Gemeinschaft mit dem Herrn auf seinem Weg zu Passion und Kreuz (152-153), die auch den Glaubenssinn der Glaubenden trägt (154). Alle diese Tradition erweisen sich nicht als frommer Narzismus, sondern als Motivation und Beweggrund, die Erfahrung der Liebe mit anderen, ja allen zu teilen: Liebe kann allein mit Liebe erwidert werden.

Kapitel fünf sieht schon im Ursprung der Visionen von M.M. Alacoque den Wunsch, die Leibe auf die Schwestern und Brüder auszudehnen. In diesem Abschnitt wird nun die innere Kohärenz dieses päpstlichen Lehrers greifbar: „Wir müssen zum Wort Gottes zurückkehren, um einzusehen, dass die beste Antwort auf die Liebe seines Herzens die Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern ist; es gibt keine größere Geste, die wir ihm anbieten können, um seine Liebe mit Liebe zu erwidern“ (167). Es folgen eine Reihe von biblischen Zitaten und kleinen biblischen Kommentierungen, die die Selbstverständlichkeit dieser Beziehung verkünden, nicht nur begründen. Das findet sich auch in der Geschichte der Spiritualität: Eine Quelle für die anderen sein (172-176); Geschwisterlichkeit und Mystik (177-180), die in eine umfassende soziale Verantwortung mündet, die nicht eine Anwendung, sondern eine mystisch-politische Vereinigung mit dem Christus unter uns darstellt, der vor allem in seinen geringsten Schwestern und Brüdern erkannt werden will. Mt 25 zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Kapitel.

Mensch: Maschine oder pulsierendes Herz

Am Beginn der Moderne steht die Idee, dass der Mensch wie eine Maschine sei, der deshalb mathematisch und technisch vermessen und optimiert werden könnte. Heute, nach dem Ende des mechanistischen Zeitalters, stehen wir individuell immer noch in der Bannkraft dieser Idee, weil wir uns mit allen möglichen Beratungsapps, die immer nur messen können, zu optimieren versuchen. Aber auch gesellschaftlich hat uns dieses Vorstellungsmodell im Griff, weil der sogenannte Posthumanismus, in dem Roboter und künstliche Intelligenz geistig überholen werden, uns eine digitales ewiges Leben verspricht. Die alten Verachtung des Körpers und des Sinnlichen seit der alten Gnosis! Doch können Algorithmen fühlen? Ist die „künstliche Intelligenz“ einfühlsam? Haben unsere geistigen Ressourcen nicht ihre Erdung in einer körperlichen Tiefendimension. Werden die künftigen neuen und optimierten Helfer meine eigene, unverwechselbare Perspektive wirklich aufnehmen können, oder werden die künstlichen Wesen nur reden wie hochkomplexe Papageien? Vor den neuen Propagandisten der schönen neuen Welt muss gewarnt werden! Das Symbol des Herzens entlarvt die Phantasten, die schon heute Milliarden verdienen. Wir könnten die neue Administration der USA am kritischen Maß des Herzens Jesu auf ihre Versprechen hin überprüfen; und dabei darauf achten, wie sie mit den Marginalisierten und Armen umgeht.

Mit Recht fragen daher Philosophen und Theologinnen wieder nach der körperlichen Dimension unseres Geistes und suchen Wege, auf neue Weise mit dem Herzen zu denken. Christ Herz ist ein guter, Ja heilender Widerspruch zu den Mechanismen dieses Zeitalters: „Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr für eine bedingungslose Liebe gibt. Er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot“ (218).

Roman A. Siebenrock

Der Beitrag ist gekürzt erschienen in: Kirche heute 12/2924, 13-15.

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