In mindestens achtzehn Staaten werden Kinder rekrutiert und in bewaffneten Konflikten eingesetzt werden – von der regulären Armee bis zu Rebellen, von Guerillabewegungen bis zu Drogenkartellen. Das Phänomen hat den Status einer humanitären Katastrophe angenommen.
Dahara war 15 und hatte noch nie eine Waffe benutzt, bis er zusammen mit seinem achtzehnjährigen Cousin Hagar in Libyen ankam. Sie waren in ihrem winzigen Dorf im Tschad in einen Pickup gesteigen und hatten sich von dort aus zusammen mit anderen auf die lange, tagelange Fahrt durch die Wüste aufgemacht, bis sie ein Ausbildungslager im Süden Libyens erreichten. Bevor sie aufbrachen, war ihm gesagt worden, dass sie in Libyen arbeiten und anschließend nach Europa gehen würden, wenn sie das wollten. Stattdessen bekam er eine Waffe. Er musste die Befehle von libyschen Milizionären befolgen. Dort gab es viele Söldner aus dem Tschad, Nigeria und Mali.
Auf der Militärbasis von Al Jazeera in den Außenbezirken von Mogadischu in Somalia ist Idris mit seinen zehn Jahren ein neuer Rekrut. Er zeichnet gerne. Sein Anführer gibt ihm etwas Papier, und er benutzt es zum Zeichnen. Ihm bleibt nur wenig Zeit, denn seine Ausbilder haben es eilig, sie wollen ihn und die anderen Rekruten in ein paar Wochen bereit haben. Idris hat zu viel zu tun, als dass er seinem Hobby nachgehen könnte. Er träumt davon, Maler zu werden, wenn er groß ist. In seiner Freizeit lernt er Yusef kennen, ebenfalls zehn Jahre alt. Aber sein Freund hat Glück, er hat bessere Kleidung und besseres Essen. Yusef ist Mitglied der Leibwache eines Regierungsbeamten: Deshalb scheint es ihm immer besser zu gehen.
In verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt werden Kindersoldaten gezwungen, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen, und zum Töten ausgebildet. Verglichen mit der weltweiten Covid-19-Pandemie ist das Virus der Gewalt, unter dem die Kindersoldaten in bewaffneten Konflikten leiden, noch tödlicher, da er ihr Leben, ihre Würde und ihre Zukunft zerstört.
Es wird geschätzt, dass etwa 250.000 Minderjährige in Kriegseinsätze verwickelt sind, als Soldaten eingesetzt und gezwungen werden, unsägliche Verbrechen zu begehen. Viele von ihnen sind zwischen 14 und 18 Jahre alt, die meisten wurden im Alter von zehn Jahren rekrutiert.
In mindestens 18 Staaten wurde von 2016 bis heute der Einsatz von Minderjährigen in bewaffneten Konflikten dokumentiert wurde: Afghanistan, Kamerun, Kolumbien, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, Indien, Irak, Mali, Myanmar, Nigeria, Libyen, die Philippinen, Pakistan, Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien und Jemen. Trotz aller Bemühungen, diesem Phänomen entgegenzuwirken, ist die Zahl der dokumentierten Fälle zwischen 2012 und 2020 beständig angestiegen.
Allein im Jahr 2019 – meldet UNICEF – wurden rund 7.750 Minderjährige rekrutiert, die von Guerillas, bewaffneten Gruppen und regulären Armeen als Kindersoldaten eingesetzt wurden. Somalia ist nach UN-Angaben mit über 1.500 Kindersoldaten, die meist von al-Shabaab entführt und zum Kämpfen gezwungen wurden, einer der am stärksten betroffenen Staaten. In Zentralafrika, wo Minderjährige von allen Hauptparteien des seit 2013 andauernden internen Konflikts eingesetzt wurden, hat das Phänomen den Status einer humanitären Katastrophe angenommen.
In Kolumbien rekrutieren trotz eines Friedensabkommens zwischen der Regierung und den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia- Ejército del Pueblo (FARC) auch andere bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Sie werden nicht nur von Guerillabewegungen wie dem Ejército de Liberacion Nacional (ELN) eingesetzt, sondern auch von demobilisierten paramilitärischen Gruppen wie den Autodefensas Unidas de Colombia (AUC).
Nach einer Studie von Defensoria del Pueblo, einer staatlichen kolumbianischen Institution, liegt das Durchschnittsalter der Rekruten bei zwölf Jahren. Die ELN-Guerillagruppen setzen sich nach Schätzungen zu vierzig Prozent aus Minderjährigen zusammen, während sich bei den paramilitärischen Milizen der AUC der Anteil der Minderjährigen auf dreißig Prozent beläuft.
In Mexiko sind Korruption, Erpressung und Entführung die üblichen Methoden der Drogenkartelle, um Kinder zu rekrutieren. Nach Angaben des „Red por los derechos de la infancia“ zählt die Zahl der Narco-Kinder etwa 30.000. Nicht alle von ihnen sind bewaffnet; die meisten sind Informanten oder Drogenschieber. In den landwirtschaftlichen Gebieten der Sierra di Durango und Michoacán werden sie für den Drogenanbau eingesetzt.
Die Jugendlichen spielen oft eine wichtige Rolle im Menschenhandel und bei der Entführung von Migranten. Einige von ihnen werden zu Mördern.
Eines der 17 Ziele der nachhaltigen Entwicklung, die von der UNO bis zum Jahr 2030 festgelegt wurden, verlangt, dass die Staaten sofortige und wirksame Maßnahmen ergreifen, um das Verbot und die Abschaffung aller Formen der Arbeit von Minderjährigen zu gewährleisten, einschließlich der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten, und ein Ende aller Formen der Arbeit von Minderjährigen vor Ende 2025. Tatsächlich scheint das Ziel sehr wiet entfernt.
Die Kindersoldaten zurückzugewinnen stellt wohl den schwierigsten Teil dessen dar, was erforderlich ist, um den von schrecklichen Gewalterfahrungen gezeichneten Jungen und Mädchen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Nach dem Ende verschiedener Konflikte in Afrika südlich der Sahara wurden Zehntausende von Kindersoldaten nach Hause geschickt. Sehr oft haben die Kinder, die in Flüchtlingslagern rekrutiert wurden, keine Familien, entweder weil sie diese verloren haben oder weil Mitglieder ihrer Gemeinschaften getötet wurden, und können daher nicht in ihre Dörfer zurückkehren. UNICEF und eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen helfen den Kindern, als ersten Schritt zur „Anpassung an den Frieden“ für den Übergang Berufsausbildungskurse zu besuchen, die ihnen Arbeitsmöglichkeiten eröffnen.
Die psychologischen Probleme sind nicht zu unterschätzen: Die Kinder, die Gräueltaten begangen haben, sind ihr ganzes Leben lang von diesen Erfahrungen gezeichnet; ihre psychologische Genesung ist für ein neues Leben unerlässlich.
Am vergangenen 12. Februar, dem Internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten, haben der EU-Hochkommissar Josep Borrell und die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte, Virginia Gamba, ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlicht, um auf dieses tragische, aber immer noch weltweit verbreitete Phänomen aufmerksam zu machen. Wie das Kommuniqué feststellt, zahlen Kinder trotz aller internationalen Bemühungen weiterhin den höchsten Preis in den Konflikten der Welt und werden zum Kämpfen rekrutiert – und folglich ihrer Grundrechte beraubt.
Es wird auch darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Ratifizierung des Fakultativprotokolls über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten (OPAC), das im Jahr 2000 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde, verallgemeinert wird, wonach Minderjährige erst ab dem achtzehnten Lebensjahr rekrutiert werden dürfen. Obwohl 170 Staaten das Protokoll unterzeichnet haben, ist es noch weit von einer vollständigen Umsetzung entfernt. Es genügt nicht, das Bewusstsein für das Phänomen der Kindersoldaten zu schärfen: Gefragt sind Taten und konkrete Verpflichtungen, damit die Minderjährigen wirklich geschützt und ihre Rechte im Kindesalter respektiert werden.
Die gesellschaftliche Rehabilitierung ist ein langer Weg, wenngleich er nicht unmöglich ist. Diesen Kindern das Recht zu sichern, in einer geschützten Umgebung aufzuwachsen, mit Bildung, Zugang zu sicheren Schulen und Arbeitserfahrung, bedeutet, ihr Recht auf Leben selbst zu sichern.
Julien Kadiri